Psalmen – Dichtung und Gebet

Psalmen – Dichtung & Gebet
Gedankensplitter & Aufgelesenes

 Theologie & Poesie

«Das, was unser Leben und unser Innerstes am tiefsten berührt, nämlich die Vergänglichkeit des Menschen, die Krankheit, der Tod, die Armseligkeit der Überzeugungen und Gedanken, all das kann nicht in der Sprache der Theologie ausgedrückt werden, da diese seit vielen Jahrhunderten nichts anderes tut, als alle Aussagen zu einer glatten Kugel abzurunden, die sich leicht hin- und herrollen lässt, die man aber nicht fassen kann. Die Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts hingegen ist dort, wo sie sich mit dem Wesentlichen befasst, nichts anderes als ein Zusammentragen von Daten über die letzten Dinge im menschlichen Dasein, und dabei hat sie ihre eigene Sprache ausgebildet, die auch von den Theologen benutzt werden könnte – oder eben nicht.» Czesław Miłosz[1]

Der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz (1911-2004) hat damit ausgedrückt, weshalb die Psalmen seit über zweieinhalbtausend Jahren Psalmen in lebendigem Gebrauch sind und bis heute täglich ihr kreatives Potential erweisen: Sie sind Dichtung und bringen Leben zur Sprache. Für Sprecher aus vielfältigen Kulturen sind sie Ausdruckshilfe, Meditationsformel und Gebetsformular, für einzelne, für Gruppen und Gemeinschaften. Ungebrochen ist ihre Kraft, Trost zu suchen, Vertrauen auszusprechen, Empörung vorzubringen und um Rettung zu flehen. Alle Künste werden von den Gebeten der Psalmisten zu neuen Gestaltungen angeregt. Auch Menschen ohne Gebetspraxis finden in den uralten Texten der Psalmisten eine Sprechmöglichkeit, bewegende Erlebnisse und Gefühle ins Wort zu bringen, von höchstem Jubel bis zum tiefstem Schmerz. Verfolgte retten sich in die Zuversicht auf einen sicheren Ort, Niedergeschlagene richten sich auf und die Schönheit des Lebens und Gottes kann besungen werden.

 Anrufung & Resonanz

Dass die Psalmen Gebete sind, versteht sich. Auch heute Dichtende greifen – mit den alten Gründen – zu dieser Form:

»Das Gefühl, eine Adresse für so etwas wie Dankbarkeit zu haben, das Gefühl, das alles in der Welt zusammen hängt und man ein Teil davon ist«[2], so umschreibt Barbara Frischmuth Religion.

»Wenn etwas so wäre, wie es sein sollte, hätten wir den Mund immer nur zum Essen aufgemacht. Wir haben aus Not den Mund zum Beten aufgemacht«[3], das ist Martin Walsers Aussage über die Aufgabe und Arbeit der Schriftsteller.

Ein Mangel, eine Fehlen und Vermissen verleiten den einen zum Sprechen, ein Mehr-Wert, ein Überschuss geht ein in die literaturproduktiven Motive der anderen. Eine Adresse dafür – für die Äußerung der Not wie der Dankbarkeit – haben beide im Sinn.

Heinz Schlaffer hat neuerdings die These breit belegt, dass das Wesen der Lyrik, die Frage nach ihrer Herkunft und Aufgabe vor allem aus der Praxis des Gebets zu verstehen ist (kurze Zusammenfassung siehe in einem eigenen Beitrag). Auch wenn heute die Zwecke dieser ursprünglichen Dichtung – Tauschhandlungen mit Gottheiten – verschwunden sind, so wirken die Mittel in Strukturen und Formen des Gedichts bis heute weiter. Poesie, so Schlaffer, ist die Muttersprache der Götter, und ein angemessen sprechender Dichter / Beter sollte enthusiastisch sprechen können (en theos – worin Gott ist)[4].

Soweit die literaturgeschichtliche These. Sie gibt darüber hinaus eine Idee, weshalb die Psalmen nicht nur bei sozusagen notorisch Betenden auf Interesse stoßen und „in der deutschen Sprachgeschichte seit der Reformation … zu den stärksten, auch wirksamsten literarischen Gattungen“ (P.K. Kurz) gehören könnten: Auch wenn die originären Zwecke, Gottheiten umzustimmen und zum Handeln zu bewegen so nicht mehr nachvollzogen werden, ist doch das Anliegen, die eigene Not wie die eigene Freude zum Ausdruck zu bringen, für diesen Ausdruck auch eine „Adresse“ zu haben und die eigene Lage zu wenden, ungebrochen vorhanden und letztlich auch nicht aufgebbar.

Eine aktuelle sozialwissenschaftliche These – der Soziologe Hartmut Rosa denkt darüber nach, in welchen Situationen sich Menschen als authentisch erleben – formuliert eine ähnliche Perspektive:

»Was uns als Spezies auszeichnet, ist ja unser sozialer Sinn und unsere Fähigkeit, Kontakt aufzunehmen, uns in die Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen. Und am beglückendsten ist es, wenn wir das Gefühl haben: Da antwortet mir etwas, wir schwingen sozusagen auf derselben Wellenlänge. Dieses Weltverhältnis beschreibe ich mit dem Begriff der Resonanz. … Die einen finden sie in der Kunst, beim Malen, Dichten oder Musizieren. Singen zum Beispiel ist Resonanz per se, da spürt man die Schwingung ganz körperlich. Andere zieht es in die Natur. Sie gehen in den Wald, in die Berge oder ans Meer und fühlen sich dort auf besondere Weise berührt. Und dann gibt es natürlich noch die Religion. Die Bibel ist ja ein einziges Dokument des Schreiens, Betens und Harrens auf Antwort. Alle religiösen Traditionen kennen verschiedene Resonanzpraktiken. Deshalb ist die Religion auch nicht totzukriegen.«[5]

Die Faszination der alten wie der neuen Psalmen ist damit dreifach begründet: In der existentiellen Lage der Sprechenden, in der ästhetischen Qualität der Sprache und in der beziehungsstiftenden Adressierung. In vielen Psalmen ist ein mitunter dramatischer Wandel der inneren Stimmung wie der äußeren Verfassung spürbar: Etwa das Wiederfinden von Zuversicht und Hoffnung oder die Wiederherstellung des Ansehens sowie ein Wechsel von angstvoller Klage zu freudigem Lob und Dank als wie auch immer zu interpretierende Erfahrungen von Resonanz unmittelbar im Prozess des Gebets.

Hilde Domin verlangt den Dichtenden Mut ab:

»Ein Schriftsteller braucht drei Arten von Mut. Den, er selber zu sein. Den Mut, nichts umzulügen, die Dinge beim Namen zu nennen. Und drittens den, an die Anrufbarkeit der anderen zu glauben.«[6]

Auch hier, in einem Gespräch über „säkulares“ Dichten, sind diese drei Elemente zu finden: Wahrhaftigkeit, Sprachfähigkeit und anrufender Charakter.

Die Frage, ob es den Adressaten Gott „gibt“, ob er erreichbar sei, wenn ja für welche Anliegen und mit welchen Aussichten, bleibt dabei ohne lehrhafte Antwort. Die Anrede, die Anrufung bleibt, oder die Frage danach:

»Kein Gedicht jetzt, kein Licht

welchen Namen werde ich rufen

wo und wohin?«

Ludwig Fels[7]

 

Hans Magnus Enzensberger überschreibt eine Art Psalm ironisch affirmativ mit dem Titel

»Empfänger unbekannt
Retour à l’expéditeur«[8]

Wahrhaftigkeit & Authentizität

Gerade was die Frage und Forderung nach existentieller Wahrhaftigkeit und Authentizität angeht  mag manche verblüffen, wie aktuelle theologische Reflexion über das das Gebet dem in einem zentralen Punkt folgt: »Der Gebetsglaube hebt den Gotteszweifel nicht auf. Das Gebet ist der Ort der Wahrheit […] und gerade deshalb nicht der Ort der fraglosen und fragenlosen Gewissheit.« Jürgen Werbick [9]

Und was Walter Helmut Fritz über „das Gedicht, an das ich denke, wenn ich schreibe“ sagt, mag auch für das Gebet gelten, gerade für den Aspekt der Anrufung und der Resonanz: „Es teilt nicht nur Erfahrung mit, sondern schafft sie vor allem.“[10]

Alle drei Aspekte – und zur Anrufung auch eine spürbare Resonanz – finden wir bei Rose Ausländer:

Mysterium

Die Seele der Dinge

läßt mich ahnen

die Eigenheiten

unendlicher Welten

 

Beklommen

such ich das Antlitz

eines jeden Dinges

und finde in jedem

ein Mysterium

 

Geheimnisse reden zu mir

eine lebendige Sprache

 

Ich höre das Herz des Himmels

pochen

in meinem Herzen

 

Ganz anders, und doch mit einer sehr ähnlichen inneren Bewegungsrichtung Dorothee Sölle:

»Die Psalmen sind für mich eins der wichtigsten Lebensmittel. Ich esse sie, ich trinke sie, ich kaue auf ihnen herum, manchmal spucke ich sie aus, und manchmal wiederhole ich mir einen mitten in der Nacht. Sie sind für mich Brot.« [11]

 

Expression & Dynamik

Das eigene Leben zu erzählen oder zu schreiben macht es hörbar, lesbar auch für einen selber – und in der Lektüre entwickelt es eine Dynamik, verändert es sich, gewinnt es neue Aspekte und Perspektiven, auch in die und für die Zukunft. Eine große Zahl von Psalmen führt bittere Klage, schreit vor Verfolgung, Verlassenheit und Angst. Im Sprechen und Klagen tritt oftmals eine Art wunderbarer Wandel ein: Hoffnung scheint auf, Bilder einer anderen, zukünftigen Wirklichkeit, Erinnerungen an frühere Rettungen. In der Auseinandersetzung mit dem Adressaten „Gott“  verändert sich der Blick auf das eigene Geschick, in der Auseinandersetzung mit dem „fiktiven Anderen“  moderner Tagebücher [12]geschieht kein bloßer Report, sondern eine dynamische Lektüre des eigenen Lebens. Aus der Sprachlosigkeit und dem Verstummtsein hinaustretend wird Erlittenes als Ertragenes sichtbar und im Anschauen des Ertragens werden vergessene Überlebenskräfte wieder präsent, zugänglich und virulent.

 

„Im-Wort-Sein“ theologisch

Aus einem systematisch-theologischen Zugriff kommt Hans-Joachim Höhn zu einer sehr spezifischen Begründung des betenden Sprechens. Im Rahmen des christologischen Teils seiner Fundamentaltheologie („Gott entsprechen: Gottessohnschaft Jesu und Gottebenbildlichkeit des Menschen“) und auf der Basis einer relational-ontologischen Anthropologie reflektiert Höhn auf die Sprachlichkeit des menschlichen Daseins, durch die der Mensch als Person präsent wird und durch die ihm andere Personen gegenwärtig werden. In der und durch die Sprache / Sprachlichkeit erschließt sich der Mensch die Welt und kommt selber zur Welt – und eben das ist Verwirklichung seiner Gottebenbildlichkeit. Schöpfer und Schöpfung wie (menschliches) Geschöpf sind ohne Sprache nicht denkbar. Dem Wort, das ins Dasein ruft, gilt es zu ent-sprechen, Menschsein heiß im doppelten Sinne „Im-Wort-Sein“.

Zum Ausdruck kommt all das im Gebet, der Mensch artikuliert seine existentiale Grundsituation und wird „zur Rede gestellt“. Das hat verschiedene Dimensionen:

  • Wahrnehmung des Verdanktseins aus bedingungslosem Freispruch und Zuspruch: Loben & Danken
  • Wahrnehmung der Verantwortung, des Im-Wort-Seins als Verstehen und Stellungnehmen: Fürbitte
  • Wahrnehmung der Unverfügbarkeit in Sprachlosigkeit und Aufschrei: Klage

Es geht, so Höhn, im Gebet darum, wie der Mensch Gott entsprechen kann, nicht umgekehrt.[13]

Poetische Reflexionen – Poeten über Gebet, Dichtung & Religion

Czesław Miłosz
Vom Gebet[14]

Du fragst mich, wie beten zu einem, den es nicht gibt.

Ich weiß so viel, daß das Gebet eine Brücke baut aus Samt,

Auf der wir gehen, auffliegend wie auf einem Sprungbrett,

über Landschaften von der Farbe reifen Goldes,

verwandelt durch ein magisches Innehalten der Sonne.

Diese Brücke führt ans Ufer der Umkehrung hin,

Wo schon alles verkehrt ist und wo das Wort »es gibt ihn«

Einen kaum geahnten Sinn enthüllt.

Hör gut zu, ich sage »wir«. Jeder, jeder Einzelne, fühlt dort

das Mitleid mit den anderen, in ihre Körper Verstrickten,

und er weiß: selbst wenn es kein anderes Ufer gäbe,

die Brücke über die Erde beträten wir doch.

 

Cambridge, Mass., 1992

 

 

Les Murray
Dichtung und Religion[15]

 

Religionen sind Gedichte. Sie bringen

unseren Tages- und Traumgeist in Einklang,

unsere Gefühle, Instinkte, den Atem und die uns angeborene Gestik

 

in das einzig vollkommene Denken: Dichtung.

Nichts ist gesagt, bis es in Worten hinausgeträumt ist

und nichts ist wahr, was nur in Worten wahr ist.

 

Ein Gedicht kann, verglichen mit einer geordneten Religion,

wie die kurze Hochzeitsnacht eines Soldaten sein

nach der man sterben und leben kann. Doch das ist eine kleine Religion.

 

Volle Religion ist das große Gedicht in liebevoller Wiederholung;

wie jedes Gedicht muß sie unerschöpflich und vollkommen sein

mit Wendungen, wo man sich fragt Warum hat der Dichter das wohl getan?

 

Man kann eine Lüge nicht beten, hat Huckleberry Finn gesagt;

man kann sie auch nicht dichten. Es ist derselbe Spiegel:

beweglich, aufblitzend nennen wir es Dichtung,

 

um eine Mitte verankert nennen wir es eine Religion,

und Gott ist die Dichtung, die in jeder Religion gefangen wird,

gefangen, nicht eingesperrt. Gefangen wie in einem Spiegel,

 

den er anzog, da er in der Welt ist, wie die Poesie

im Gedicht ist, ein Gesetz gegen jeden Abschluß.

Es wird immer Religion geben, solange es Dichtung gibt

 

oder einen Mangel an ihr. Beide sind gegeben, und periodisch,

wie der Flug jener Vögel – Haubentaube, Rosellapapagei –

die so fliegen: die Flügel zu, dann schlagend und wieder zu.

 

Zum Weiterlesen auf dieser Plattform:

Kurz, Paul Konrad: Der Psalm, die vergessene literarische Gattung, in: Orientierung 15/16 (1978), S. 162-164 (Text)

Geistersprache – eine Zusammenfassung der Thesen von Heinz Schlaffer

Literaturrecherche zur literarischen Rezeption: Anthologien und Reflexionen

Lebens.Raum Psalmen – die Matinee zur Ausstellungseröffnung

Ich höre das Herz des Himmels: Psalmen – eine Matinee „Bibel & Literatur“

Sonnengesänge – eine Matinee „Bibel & Literatur“

 

Text: Johannes Kohl, Mainz
Weitere Informationen und Texte: johannes.kohl@bistum-mainz.de

 

[1] Czesław Miłosz: Theologie, Poesie, in: Hündchen am Wegesrand. Aus dem Polnischen übertragen von Doreeen Daume, München: Carl Hanser (2000) S. 37
[2] Nach Karl-Josef Kuschel: Vom Vergnügen, seine eigene Religion zu haben. Gespräch mit Barbara Frischmuth, in: ders.: »Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen«. 12 Schriftsteller über Religion und Literatur, 113-126, hier 124; zitiert nach Christoph Gellner: »…Nach oben offen«. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile, Ostfildern: Grünewald (2013) S. 119
[3] Martin Walser: Wer ist ein Schriftsteller? Aufsätze und Reden, Frankfurt/M. (1979) S. 98; zitiert nach Christoph Gellner: »…Nach oben offen«, S. 280
[4] Schlaffer, Heinz: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, München: Hanser (2012), S. 45
[5] DIE ZEIT N° 34 / 14. August 2014, Hartmut Rosa im Gespräch mit Ulrich Schnabel
[6] 1986, Rundfunk-Interview
[7] Ludwig Fels: Kein Gedicht jetzt (No poem now), in: Akzente 2/2014, S. 162
[8] Hans Magnus Enzensberger: Kiosk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1995) S. 124
[9] Jürgen Werbick: Gebetsglaube und Gotteszweifel, Münster: LIT (2001) S. 32; zitiert nach Christoph Gellner: »…Nach oben offen«, S. 119
[10] In: Widerspiel. Deutsche Lyrik seit 1945, hrsg. v. Hans Bender, München: Hanser (1962) S. 88; zitiert nach Christoph Gellner: »…Nach oben offen«, S. 96
[11] Aus: Dorothee Sölle – Das Lesebuch, hrsg.v. Ursula Baltz-Otto, Stuttgart: Kreuz (2004), S. 54 -57 (Bibelarbeit beim Kirchentag in Hamburg 1995); zitiert nach http://www.johannesgemeinde-hofheim.de/Psalmen_essen.pdf
[12] Henning Luther: Religion und Alltag, Stuttgart: Radius (1992); darin 111-122: Der fiktive Andere. Mutmaßungen über das Religiöse an Biographie, und 123-149: Das unruhige Herz. Über implizite Zusammenhänge zwischen Autobiographie, Subjektivität und Religion
[13] Hans-Joachim Höhn : Gott – Offenbarung – Heilswege. Fundamentaltheologie, Würzburg: Echter (2011) S. 257-274
[14] Kompilierte Übersetzung; Fundorte: Czesław Miłosz: DAS und andere Gedichte. Aus dem Polnischen von Doreen Daume, München: Carl Hanser (2004) S.116; Krzysztof Walczyk SJ: Czeslaw Milosz und seine Epiphanien; In: Stimmen der Zeit 4/2003, S. 260-276
[15] Murray, Les: Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen. Aus dem Englischen von Margitt Lehbert, München: Carl Hanser (1996) S. 82f

 

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