Welten.Raum
Weite und Geborgenheit
1. Schöpfungserzählungen allgemein
In allen Kulturen ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu werden, in welchen Raum und in welche Situation die Menschen gestellt sind und wie sie sich an ihrem Platz orientieren können. Dies geschieht in Erzählungen, die darüber berichten, wie die vorfindlichen Lebensverhältnisse entstanden sind. Sie geben der oft unübersichtlichen Welt ein Ordnungsgefüge. Auf diese Weise wird sich der Grundlagen unseres Lebens vergewissert. In den Schöpfungserzählungen geht es also nicht darum, über ein vergangenes Ereignis zu berichten, sondern ein Bild davon zu geben, dass die Welt so ist wie sie ist.
Von daher sind in der Bibel Schöpfungstexte bewusst an den Anfang der Bibel gestellt. Der wohl bekannteste Text, mit dem die Bibel beginnt, schildert die Schöpfung der Welt im Ablauf von 6 Tagen, an den sich der 7. Tag, der Ruhetag anschließt (Genesis 1,1 – 2,4a). Am sechsten Tag wird der Mensch erschaffen, der Repräsentant Gottes ist und dem deshalb die Welt anvertraut ist. Der Mensch existiert als Mann und Frau, betont also die gleichen Rechte und Pflichten von Männern und Frauen (Genesis 1,27).
In einer zweiten Schöpfungserzählung wird zuerst der Mensch erschaffen, dargestellt in dem Bild, dass der Mensch aus der Erde geschaffen wird und ihm durch Gott Lebensatem eingehaucht wird (Genesis 2,4b-3,27). Die Frau wird aus der Rippe erschaffen, im Fokus dieser Schöpfungserzählung steht also die Zuordnung von Mann und Frau; sie sind gegenseitig auf sich angewiesen. Mann und Frau werden in einen paradiesischen Garten gesetzt, aus dem sie durch ihr eigenes Tun vertrieben werden und in eine Welt gesetzt, die Arbeit und Mühsal verlangt. Das ist die für die Adressaten der Schöpfungserzählung erfahrbare Welt.
In den folgenden Erzählungen der Urzeit werden negative Aspekte der vorfindlichen Welt wie Brudermord (Genesis 4: Kain und Abel) und allgemein in der Sintflutüberlieferung (Gen 6-9) die Bosheit der Menschen thematisiert. Sie machen deutlich, dass das Leben der Menschen unter vielfältigen Einschränkungen steht. Zielpunkt gerade der Sintflutgeschichte ist es jedoch, die Verlässlichkeit der von Gott gesetzten positiven Lebensbedingungen zu betonen. Sie werden von Gott garantiert: „So lange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (Genesis 8,22). Gott schließt einen Bund mit den lebenden Wesen, dessen Zeichen der Regenbogen ist (Genesis 9,12-17).
Den Abschluss der Erzählungen aus der Urzeit bildet dann der Turmbau von Babel, der menschlichen Hochmut zur Sprache bringt und gleichzeitig die Erfahrung der unterschiedlichen Sprachen dieser Welt zum Thema hat (Genesis 11).
2. Der Schöpfungspsalm 104
Psalm 104 preist die Schöpfung der Welt durch Gott. „Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen.“ (Psalm 104,24). Dieser Grundton durchzieht den Psalm und wird am Anfang und Ende des Psalms durch die Aufforderung zum Lob („Lobe den Herrn, meine Seele!“ Psalm 104,1.35) betont hervorgehoben.
Gleich zu Beginn wird das Bild Gottes als eines Königs gezeichnet, der sich im Himmel einen Palast baut. Die Einkleidung in einen Lichtmantel entspricht dem Erscheinungsbild altorientalischer Götter (Psalm 104,2-3). Zur Ausstattung Gottes gehört der Wolkenwagen, mit dem er unterwegs ist, begleitet von Wind und Blitz (Psalm 104,3-4). Dieses Bild ist der altorientalischen Wettergott-Tradition entnommen.
In den folgenden Versen 5-9 wird zurückgeblickt auf die grundlegenden Schöpfungsakte, die Verankerung der Erde auf Pfeiler, das Bilden von Bergen und Tälern sowie das damit verbundene Zurückdrängen der Chaosflut. Gott garantiert, dass den Chaoswassern für immer eine Grenze gesetzt ist. Dies spielt an auf die Garantie Gottes am Ende der Sintfluterzählung in Genesis 9,12-17. Auch in diesem Abschnitt werden Bilder des Kampfes mit den Chaosmächten aus der altorientalischen Schöpfungserzählungen verwendet.
Für den Erhalt der Schöpfung spielt die Wasserversorgung eine grundlegende Rolle. Durch Quellen und Regen wird sie von Gott bereitgestellt, so dass die Wildtiere und Vögel versorgt sind (Psalm 104,10-13)
Dies ermöglicht auch die landwirtschaftliche Tätigkeit des Menschen, mit der er Brot und Wein erzeugen kann (Psalm 104,14-15). Gleichzeitig wird noch einmal festgestellt, dass die Zedern des Libanon und die Bergwelt einen artgerechten Lebensraum für Wildtiere darstellen, der von Gott als solcher gewollt ist (Psalm 104,16-18).
Mit der Schöpfung der Zeit gibt Gott die Lebensrhythmen von Tier und Mensch vor (Psalm 104,19-23). Zum Lebensraum gehört auch das Meer, das nicht nur Tiere ohne Zahl beherbergt, sondern auch Handel durch Schiffe ermöglicht (Psalm 104,25-26). Der im Meer beheimatete Leviatan, im Alten Orient ein Chaosungeheuer, das ein Gegenspieler des Schöpfergottes ist, ist dabei von Gott als Spielpartner erschaffen. Der Leviatan ist keine Gegenmacht Gottes mehr.
Vor dem abschließenden Lobpreis (Psalm 104,31-35) wird noch einmal Gott als Lebensmacht für alle Lebewesen in das Blickfeld des Lesers bzw. der Leserin gerückt (Psalm 104,27-30). Auf seinen Geist sind alle angewiesen, damit Leben möglich ist.
Immer wieder ist auf die Ähnlichkeit von Psalm 104 mit dem großen Lobpreis des Sonnengottes Aton aus der Zeit des Pharao Echnaton (1351-1334 v. Chr.) hingewiesen worden. Insbesondere in den Versen 20-30 sind Übereinstimmungen vermerkt worden. Echnaton hatte die alleinige Verehrung des Sonnengottes Aton versucht in Ägypten durchzusetzen. Er ließ eine neue Hauptstadt, Amarna, bauen, in die er mit seinem Hofstaat umzog. Allerdings war seinen religiösen Reformen kein Erfolg beschieden. Nach seinem Tod setzte sich die altägyptische Religion wieder durch und auch die Residenz in Amarna wurde aufgegeben. Die Ähnlichkeiten mit dem Hymnus an den Sonnengott Aton sind jedoch nicht so weitgehend, dass eine literarischen Abhängigkeit angenommen werden muss. Sie zeigen jedoch, dass der Autor mit ägyptischer Tradition vertraut gewesen war.
In dem Schöpfungspsalm 104 wird der Lebensraum von Mensch und Wildtieren beschrieben. Auch den Wildtieren hat Gott ihren Raum zugewiesen, der nicht einfach von anderen Lebewesen, sprich dem Menschen, beansprucht werden kann. Von daher hat Psalm 104 eine andere Akzentuierung als die Schöpfungserzählungen im Buch Genesis, die jeweils die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung betonen. Insbesondere der Herrschaftsauftrag von Genesis 1,28: „Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.“ erfährt hier eine Korrektur. Wildtiere haben ein Lebensrecht und ein Recht auf Lebensraum aus sich heraus, nicht als Zuweisung durch den Menschen. Von daher steht Psalm 104 auch der großen Gottesrede aus dem Buch Ijob nahe, in der der Mensch auf die Grenzen seiner Einsicht aufmerksam gemacht wird und das Lebensrecht der Tiere betont wird (Ijob 38-39).
3. Literatur
F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Die Psalmen. Psalm 101-150, Neue Echter Bibel 2012
F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 101-150, Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament 2008
M. Kehl, Und Gott sah, dass es gut war. Eine Theologie der Schöpfung, 2006
A. Krüger, Das Lob des Schöpfers. Studien zu Sprache, Motivik und Theologie von Psalm 104, Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 124, 2010
B. Weber, Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73-150, 2003
Dr. Bernhard Lenhart