Psalmen in Judentum & Christentum

Psalmen in der jüdischen Tradition

Bezeichnung und Verständnis

Das Buch der Psalmen wird im Judentum „Tehillim“, „Buch der Preisungen“, genannt. Obwohl ja darin längst nicht nur Lobpreis zu finden ist, sagt dies doch viel aus über das Verständnis der Psalmen im Judentum: Letztlich geht es darum, dass man zu einer Haltung Gott gegenüber findet, die geprägt ist von Lob und Dank für das geschenkte Leben. Dabei werden Zweifel und Verzweiflung, Not und Verfolgung, Trauer und Klage nicht ausgeblendet. Gerade in den Psalmen werden sie zur Sprache gebracht und können so konstruktiv gewandelt werden. Angesichts der Not, des Todes und der feindlichen Mächte, die den Einzelnen und das Volk bedrohen, setzen die Psalmen ganz auf das Vertrauen in die rettende Macht Gottes. Die Geschichte des Volkes Israel kommt in den Psalmen immer wieder zur Sprache und wird jeweils neu durchdacht. Insofern kann man die Psalmen verstehen als „Antwort Israels auf die gegebene Tora“ (v. Rad, Zenger). Im Midrasch Tehillim, einer jüdischen Auslegung der Psalmen, wird dies auf die beiden jeweils als Autoren verstandenen Personen Mose und David hin verstanden: Mose ist der Geber der Tora, David der der Psalmen.

Psalmen zur Zeit des Zweiten Tempels und zur Zeit Jesu
Der Psalter war zur Zeit Jesu wohl als abgeschlossenes Buch vorhanden, obwohl es nach den Untersuchungen der in Qumran gefundenen Schriften unterschiedliche Varianten gab. Im Zweiten Tempel (im Grundbestand nach dem Babylonischen Exil gebaut, von Herodes prachtvoll umgestaltet) gab es ohne Zweifel Psalmengesang. Dieser begleitete die täglichen Opfer, bestimmte Festliturgien oder auch Buß- und Klagezeiten (vgl. auch das Buch der Klagelieder). Vor allem das „Hallel“ (auch „Ägyptisches Hallel“ genannt) spielt eine wichtige Rolle, weil es darin um die Auszug aus Ägypten geht. Dieses „Hallel“  umfasst die Psalmen 113-118 (es gibt auch noch weitere Psalmen bzw. Psalmengruppen unter dem Begriff „Hallel“). Es  wird im Zusammenhang mit dem Pesachfest in der rabbinischen Literatur oft behandelt. In diesem Zusammenhang taucht es auch im Neuen Testament auf: In der Erzählung vom Letzten Mahl Jesu heißt es im Markusevangelium: „Nach dem Lobgesang gingen sie zum Ölberg hinaus.“ (Mk 14,26).

Über die Gestaltung der Zusammenkünfte in den Synagogen zu dieser Zeit ist so gut wie nichts bekannt; man wird dort Psalmenrezitation nicht ausschließen, kann es aber historisch nicht nachweisen. Einige Hinweise gibt es auf die Nutzung der Psalmen in „privaten“ gottesdienstlichen Versammlungen (in Qumran, bei den „Therapeuten“ in Ägypten; vgl. auch in der Apostelgeschichte 4,24-30). Offensichtlich war das Psalmenbuch das „Lebensbuch“ jener Gruppen (chavurot), die sich als die „Armen“, die „Frommen“ und die „Gerechten“ dort wiederfanden und auf eine bessere Zukunft hofften. Auf diesem Wege ist möglicherweise auch die Vertrautheit der Jesusnachfolger und –nachfolgerinnen mit dem Psalter als dem am meisten zitierten Buch im Neuen Testament zu erklären. Auch sie verstanden sich als eine Gemeinschaft von Jüngerinnen und Jüngern, die in der Nachfolge Jesu einen Weg lebten, den sie als die angemessene Form des Glaubens Israels verstanden.

Psalmen in Mischna und Talmud
In diesen wichtigsten nachbiblischen Werken des Judentums spielen zum einen nochmals die Psalmen, die zum täglichen Opfer „gesagt“ werden, eine Rolle. Wichtig ist auch hier das Rezitieren des Pesach-Hallels. Es gibt viele Diskussionen darüber, wie und wann es „gesagt“ werden soll, vor allem im Babylonischen Talmud.

Später in die jüdische Liturgie eingegangen ist die Umrahmung der Amida (des „stehend gesprochenes Gebets“, auch „18-Bitten-Gebet“ genannt) mit Ps. 51,17 „Gott, öffne meine Lippen, dass mein Mund deinen Ruhm verkünde.“ und Ps. 19,15 „Die Worte meines Mundes und meine Gedanken mögen dir angenehm sein, Ewiger, mein Fels und mein Heil“ (Übersetzung: Annette Böckler, in: Das jüdische Gebetbuch, hrsg. von Jonathan Magonet und Walter Homolka, Gütersloh 1997, diverse Stellen). Da nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n.Chr. die Opfer nicht mehr möglich waren, wurde das Rezitieren der Psalmen, die in der Zeit des Zweiten Tempels während der Opfer gesungen wurden, jetzt als Ersatz für das Opfer gesehen. Die große Verbreitung der Psalmen im Gottesdienst entwickelte sich aber erst im Mittelalter.

Große Bedeutung haben die Psalmen zunächst nicht im Zusammenhang von Gottesdienst und Gebet, sondern als begleitende Schriftzitate. Sie wurden benutzt als erläuternde Texte zur Toralesung, als Bezugstexte zum Predigttext u.ä. Psalmen wurden und werden oft am Anfang einer Predigt zitiert, sind aber nicht eigentlicher Inhalt, sondern Einführung; Inhalt der Predigt ist normalerweise ein Text aus der Tora. Dies entspricht der Auslegungspraxis der rabbinischen Autoren: Textlich oder inhaltlich zusammengehörige Teile aus Tora, Propheten und Schriften werden miteinander in Beziehung gesetzt, um historische Ereignisse zu verdeutlichen oder in ihrer Bedeutungsfülle näher zu bringen. Ein Beispiel: Ps. 139,16: „Deine Augen sahen, wie ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet..“ (EÜ) wird auf Adam hin gedeutet.

Als Verfasser der Psalmen werden in der jüdischen Tradition vor allem David, aber auch Adam, Melchisedek, Abraham und Mose genannt. Auch die verschiedenen Gruppen der Tempelsänger, deren Namen oft in den Überschriften der Psalmen genannt werden, werden als Autoren verstanden. Das erste Buch der Chronik berichtet von der Beauftragung durch David: „David und die Obersten des Heeres sonderten die Söhne Asafs, Hemans und Jedutuns, die auf Zithern, Harfen und Zimbeln spielten, für ihren Dienst aus.“ (1 Chr. 25,1) Die besondere Stellung Davids hat ihren Hintergrund in der Zuschreibung vieler Psalmen an David, die sich in entsprechenden Überschriften ausdrückt. In den Zeiten nach dem Babylonischen Exil wurde damit eine besondere Verbindung des Beters zur Geschichte des Volkes Israel geschaffen. Wenn dieser in Gemeinschaft mit David betet, kommt in diesem Gebet nicht nur das persönliches Anliegen zum Ausdruck, sondern er stellt sich in die Gemeinschaft der Beter im Volk Israel über die Generationen hinweg. Die in einigen Psalmen vorhandenen Überschriften, die auf eine bestimmte Lebenssituation Davids hinweisen, verstärken dies. In der nachbiblischen jüdischen Tradition werden weitere Geschichten erzählt. Ein Beispiel: David hatte unter dem Tempel Abflussrinnen gebaut, daraufhin stieg Grundwasser aus der Unterwelt hoch. David verhinderte eine Überflutung durch das Dichten bzw. Rezitieren der 15 Stufenpsalmen 120-134 (Babylonischer Talmud, bSukka 53 a-b). Die Historisierung schafft für die Beter oder Rezitierer der Psalmen aller Zeiten eine Verbindung zur Tradition. Man stellt sich in eine Reihe mit denen, die schon vorher diesen Psalm gedichtet oder „gesagt“ haben. In späterer Zeit bekommt dieser Bezug auf David hin immer mehr auch messianische Anklänge.
Psalmen in der jüdischen Gebetstradition heute
Psalmen spielten von Anfang an immer eine Rolle in der privaten Frömmigkeit. So kann man sie auch als eine Art Meditationsbuch verstehen, mit dem man seine persönliche Lebenssituation durchdenken und „durchbeten“ kann. Aber auch im synagogalen Gebet sind die Psalmen heute stets präsent. Sie werden als Einstimmung etwa auf den Sabbatabend „gesagt“. Eine besondere Rolle spielt hier Ps. 92, der schon in der Bibel die Überschrift „für den Sabbattag“ hat. Neben ganzen Psalmen gibt es in den Gebetsordnungen auch einzelne Verse, die einen festen Platz an bestimmten Stellen des Gottesdienstes haben; z.B. bei der Amida (s.o.) oder bei der Toralesung.

Psalmen in der christlichen/ vornehmlich katholischen Tradition

Psalmen im Neuen Testament
Das Buch der Psalmen ist das am meisten zitierte biblische Buch im Neuen Testament. Dazu mag die Vertrautheit bestimmter Gruppen (der „Armen“ und „Frommen“) des damaligen Judentums mit den Psalmen beigetragen haben. Ein weiterer Grund könnte das Verständnis der Psalmen als eines messianischen Buches gewesen sein. Wenn es als Buch des wiederkommenden David verstanden wurde, erleichterte dies dann auch die Übernahme auf Jesus Christus hin. Dies spiegelt sich vor allem in den Passionsgeschichten. Wie auch ansonsten bei den Rabbinen in der jüdischen Tradition, wird das Geschehen mit Hilfe von Psalmversen oder auch anderen biblischen Texten (etwa aus dem Buch Jesaja) gedeutet. Sehr prominent vertreten ist hier Ps. 22 (etwa V. 2: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“).  Aus heutiger Perspektive des Dialogs zwischen Judentum und Christentum erschwert diese fest verwurzelte Verbindung bestimmter Psalmen mit dem Messias Jesus von Nazareth eben diesen Dialog, weil sie kaum Spielraum für andere Auslegungen lässt.

Psalmen in der kirchlichen Tradition
In der alten Kirche war der Psalter nicht so sehr Gesangbuch, sondern Lesebuch im Gottesdienst; dies schließt sich an die jüdische Tradition an. Allerdings gibt es keine Nachweise über eine direkte Vermittlung durch die synagogale „Liturgie“ – über den Gottesdienst in den Synagogen zu dieser Zeit weiß man ohnehin aber nur sehr wenig. Erst um 200 herum erscheint der Psalter als Liederbuch und findet langsam, aber stetig einen festen Platz im christlichen Gottesdienst. Hierbei wurden die Verse von einem Kantor vorgetragen, die Gemeinde antwortete mit einem Kehrvers.

Auch im frühen Mönchtum wurden die Psalmen bei aller Hochschätzung als lectio (Lesung) verstanden, auf die nach einer Stille die oratio (das Gebet) folgte. Eine Erinnerung daran ist der Zwischengesang im heutigen katholischen Gottesdienst, der auch eher den Charakter der Meditation als den des Gebetes hat. Das Mönchtum war aber Vermittler des Tagzeitengebets in den Großraum der Kirche. Beim Tagzeiten- oder Stundengebet spielten und spielen die Psalmen bis heute eine entscheidende Rolle.

Ab dem 6. Jahrhundert gab es einen Wechsel im Verständnis der Psalmen. Psalmen wurden jetzt nicht mehr als Stimme Gottes verstanden, sondern als die der Menschen. Der Psalter war jetzt nicht mehr einfach Wort Gottes an die Menschen, sondern wurde verstanden als heiliger Text. Die vorher freie Hymnenpraxis wurde eingeschränkt, der Psalter wurde zum Normtext christlichen Betens. Dies zeigte sich auch in der Körperhaltung: man wechselte vom hörenden Sitzen ins Stehen als die Ausdrucksform des Betens. Die Psalmen galten als Gabe Gottes an die Menschen; als Antwort hatte man diese vor Gott zum Klingen zu bringen. Durch diesen Wandel im Verständnis gewann der Psalter als liturgisches Buch im Mittelalter massiv an Bedeutung.

Dadurch, dass man die Psalmen – in Übertragung der Autorenschaft Davids – auch als Stimme Jesu verstand, konnten die Psalmen, wie das Vaterunser, auch zu Kurzformeln der ganzen Schrift werden. Hildegard von Bingen schreibt über ihre Berufungsvision aus dem Jahre 1141: „Und plötzlich verstand ich die Bedeutung der Schriftauslegung, nämlich des Psalters, des Evangeliums und der anderen katholischen Bände sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments.“ (Vorwort aus ihrem Werk „Liber Scivias“). Illustrationen sorgten dafür, dass die Übersetzung in christliche Bedeutungszusammenhänge leichter gelang. Auch Martin Luther verstand die Psalmen als „ein kleine Biblia .., darin alles auffs schoenest und kuerzest, so in der gantzen Biblia stehet, gefasset vnd zu einem feinen Enchiridion oder Handbuch gemacht vnd bereitet ist.“ (Martin Luther, WA.DB 10/1, 99,24-101,3). Dem entsprechend gewann der Psalter als Buch für den Katechismusunterricht eine hervorragende Bedeutung.

Schließlich wurde der Psalter zu einer Sammlung von Gebeten und Meditationstexten für alle Lebenslagen, bei der es oft nicht mehr auf den inhaltlichen Vollzug, sondern auf das reine Rezitieren ankam. Die beigefügten Gebetsanweisungen ordneten den Gebrauch der einzelnen Psalmen bestimmten Lebenssituationen zu. So konnte man die Psalmtexte, die ja aus einem ganz anderen Zusammenhang stammten, über die Jahrhunderte lebendig erhalten bzw. ihnen einen jeweils den Umständen angepassten Rahmen geben.

Im späten Mittelalter entstanden Sammlungen einzelner Psalmen – je nach Gebrauchszweck. Außerdem wurde der Psalter als Lese- und Lernbuch für Schüler eingesetzt – ähnlich wie es für jüdische Kinder das Buch Leviticus war. Viele Mönche konnten den gesamten Psalter auswendig rezitieren.

Diese auf das reine Rezitieren ausgerichtete Praxis im Sinne des unablässigen Gebetes, bei der es aber nicht so sehr auf den Inhalt ankam, stieß im Spätmittelalter auf Kritik, u.a. von Martin Luther, der wiederum den Inhalt und die Bedeutung der Texte in den Vordergrund stellte. Allerdings bestand durch den entstehenden Buchdruck auch erst in dieser Zeit überhaupt die Möglichkeit, den Psalter volkssprachlich und in größerer Zahl den Menschen zugänglich zu machen.

Im nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil reformierten Stundengebet der katholischen Kirche nehmen die Psalmen weiterhin einen großen Raum ein. Sie sind jetzt auf einen Zeitraum von vier Wochen verteilt; nach alter benediktinischen Regel wurde der ganze Psalter in einer Woche rezitiert. Einige spielen eine hervorragende Rolle und tauchen immer wieder auf, andere („Fluchpsalmen“) wurden nicht aufgenommen. Es zeigt sich aber auch eine gewisse Zwiespältigkeit: einerseits werden die Psalmen als herausragende Zeugnisse der gelebten Gottesbeziehung gewürdigt, andererseits ist man bemüht, sie generell in ihrem Christusbezug zu sehen, was viele andere Aspekte außen vor lässt.

In der Liturgie der katholischen Messfeier werden einzelne Verse aus den Psalmen als Eröffnungsverse verwendet. Die evangelische Tradition kennt hier nicht einen einzelnen Vers, sondern einen ganzen Psalm als Möglichkeit, seine Gedanken zum Gottesdienst zu sammeln. In der katholischen Kirche wurde der Antwortpsalm nach der ersten Lesung,  der alter kirchlicher Tradition entspricht, wieder eingeführt. In der Praxis wird er jedoch häufig durch ein entsprechendes Lied ersetzt. Generell spielen in der deutschen katholischen Tradition, angeregt durch die Reformation, von den Psalmen inspirierte Lieder eine größere Rolle als die Psalmen selbst. Hier hat sich vor allem in den reformatorischen Kirchen eine reiche kirchenmusikalische Tradition entwickelt.

Tiefer als in der katholischen Kirche (auch im neuen „Gotteslob“ wird vor allem Wert auf den christologischen Bezug gelegt; siehe dort S. 129f.) wurde im neuen Evangelischen Gesangbuch das Verhältnis zum Judentum und seinem Vollzug des Psalmenrezitierens durchdacht. Es wird verwiesen auf das andauernde Gotteslob, die Klagen und die Bitten des Volkes Israel durch die Psalmen, auf das Psalmengebet Jesu und die weitergehende christliche Tradition. „Mit den Worten Israels beten so auch Christen zu Gott und bringen mit den Juden Lob und Dank, Klage und Bitte vor Gott.“ (Evangelisches Gesangbuch, Gütersloh 1996, S. 1134).

Hauptquelle:  Erich Zenger (Hrsg.): Der Psalter im Judentum und Christentum,
Herder Freiburg-Basel-Wien 1998;
daraus vor allem folgende Beiträge:

– Günter Stemberger, Psalmen in Liturgie und Predigt in der rabbinischen Zeit, S. 199-213.
Gerhard Bodendorfer, Zur Historisierung des Psalters in der rabbinischen Literatur, S. 215-234.
Karl Löning, Die Funktion des Psalters im Neuen Testament, S. 269-295.
Thomas Lentes, Text des Kanons und Heiliger Text. Der Psalter im Mittelalter, S. 323-354.
Albert Gerhards, Die Psalmen in der römischen Liturgie. Eine Bestandsaufnahme des Psalmengebrauchs in Stundengebet und Meßfeier, S. 355-379.

 

Dr. Marianne Bühler, Theologin, Wittlich

 

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