Das Haus der Psalmen

In dem Ersten (Alten) Testament wird vom Handeln Gottes an und mit den Menschen berichtet, von der Schöpfung der Welt und der Führung des Volkes Israel. Das Buch der Psalmen unterscheidet sich von den anderen Büchern der Bibel darin, dass in ihm vornehmlich die Antwort Israels (Gerhard von Rad) auf die Taten Gottes festgehalten ist. Von daher findet sich in diesem Buch die ganze Bandbreite menschlichen Erlebens: Tiefe Klage und heftige Anklagen, Angst bei Krankheit und Not, nachdenklicher Rückblick, Freude und Vertrauen, Bitte und Lobpreis. Dabei ist jeder Psalm ein Raum für sich, ausgestattet mit den ihm eigenen dunklen und / oder hellen Farben. Es gibt allerdings auch Verbindungsgänge, Flure und Etagen zwischen den einzelnen Psalmen, die in den letzten Jahren stärker in den Mittelpunkt der Forschung gerückt sind; mit anderen Worten ist das Gesamtbuch der Psalmen, die Architektur des Psalmenhauses (Thomas Staubli) in das Zentrum des Interesses gerückt.

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(Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Autors Thomas Staubli „Begleiter durch das Erste Testament, 4. Auflage 2010, S. 308.)
Die Bezeichnung „Psalter“ für die Gesamtheit der 150 Psalmen dieses biblischen Buches geht auf die griechische Wiedergabe des Ersten Testaments, die Septuaginta, zurück. Sie verweist auf die musikalische Begleitung der Texte und betont damit die musikalische Dimension, die bei gemeinschaftlichen Vorträgen der Psalmen, sei es im Kreis der Beter oder im Gottesdienst, immer gegeben ist. Als Gesamtüberschrift über die Psalmen findet sich die Bezeichnung „Psalmos“ erstmalig im Codex Vaticanus (4. Jahrhundert n. Chr.); das Wort „Psalterion“ ebenfalls als Buchüberschrift im Codex Alexandrinus (5. Jahrhundert n. Chr.).
Die Überschrift in der Hebräischen Bibel hat einen anderen Akzent. Sie benennt das Buch der Psalmen als „Tehilim“, als Lobpreisungen. Dies entspricht nicht der inhaltlichen Gewichtung im Psalter, es überwiegen nämlich die Klagen, aber es betont den Schlussakzent der letzten Psalmen, schon im letzten Drittel, vor allem aber in den Schlusspsalmen 146 bis 150. Die Aussage der Überschrift in der Hebräischen Bibel ist demnach, dass die vielfältigen Stimmungslagen und Nöte der Menschen letztlich in den Lobpreis Gottes einmünden.
Die in Qumran entdeckte Psalmenrolle und das Zweite (Neue) Testament belegen, dass die Psalmensammlungen vor allem mit dem Namen des Königs David verbunden worden sind. Im Lukasevangelium ist von David als dem Verfasser des Psalmenbuches die Rede (Lukas 20,42). Die Psalmen werden neben das Gesetz des Mose (die Tora) und neben die Propheten gestellt. Ganz fest war die Zugehörigkeit und Zählung einzelner Psalmen in dieser Zeit wohl noch nicht. Das zeigt sich in der unterschiedlichen Zählung der Psalmen in der Septuaginta sowie im 151. Psalm der Septuaginta wie ebenfalls in Psalmenrollen aus Qumran; in der syrischen Tradition werden sogar 155 Psalmen überliefert. Verwirrend ist, dass die Zählweise der Psalmen sich im katholischen Bereich bis heute oft an der Septuaginta orientiert. Deshalb sei hier eine Darstellung der unterschiedlichen Zählweise gegeben:

Zählweise in der Hebräischen Bibel
Psalm 1-8
Psalm 9-10
Psalm 11-113
Psalm 114-115
Psalm 116,1-9
Psalm 116,10-19
Psalm 117-146
Psalm 147,1-11
Psalm 147,12-20
Psalm 148-150

Zählweise in der Septuaginta
Psalm 1-8
Psalm 9
Psalm 10-112
Psalm 113
Psalm 114
Psalm 115
Psalm 116-145
Psalm 146
Psalm 147
Psalm 148-15

Es ist damit zu rechnen, dass das Psalmenbuch eine lange und komplizierte Entstehungsgeschichte hat.
Auf die Schlussredaktion geht wohl der doppelte Ein- bzw. Ausgang zurück: Der Eingang in Psalm 1 stellt den Beter vor die Entscheidung zweier Wege, den des Gottesfürchtigen und den des Frevlers; Psalm 2 betont die Macht Gottes, die fähig ist, die Todesmächte zu überwinden und Leben zu ermöglichen. Der Ausgang Psalm 149 nimmt die Rettung des verfolgten, gedemütigten, „armen“ Israel durch seinen Gott in den Blick und die damit verbundene universale Durchsetzung seiner Rechtsordnung, die die gesamte Schöpfung zum Jubeln bringt (Psalm 150).
Grundlegend ist eine Einteilung des Psalmenbuches in fünf Teile erkennbar, die jeweils mit einem Lobpreis abgeschlossen werden:
I. Psalm 1-41 Abschluss: Psalm 41,14
II. Psalm 42-72 Abschluss: Psalm 72,18-19
III. Psalm 73-89 Abschluss: Psalm 89,53
IV. Psalm 90-106 Abschluss: Psalm 106,48
V. Psalm 107-150 Abschluss: Psalm 146-150

Die Fünfzahl erinnert an die 5 Bücher des Mose (Genesis bis Deuteronomium). Damit wird der wichtigsten religiösen Schrift des Judentums der Psalter an die Seite gestellt.Gleichzeitig erfolgt damit eine Parallelisierung von König David mit Mose, der Gründergestalt Israels. Dass die Psalmen mit David in Verbindung gebracht wurden, hat wohl seinen Hintergrund in der Musikalität Davids, der nach einer Überlieferung aus dem ersten Samuelbuch als Musiker an den Hof Sauls kam, um Saul durch sein Spiel die bösen Geister zu vertreiben (1 Samuel 16,14-23). Gleichzeitig erhält die Königsgestalt, um die es vielfach im Psalter geht, eine Tiefendimension, die den biblischen König auch mit Verzweiflung, Krankheit, Not und einer beispielhaften Frömmigkeit in Verbindung bringt, das normale Königsbild mit seinen Machtbildern also weit hinter sich lässt. Insgesamt sind 73 Psalmen mit David durch später eingefügte Überschriften verbunden worden; 13 davon sind mit konkreten Situationen seines Lebens verknüpft, z.B. Psalm 51: Ein Psalm Davids, als der Prophet Natan zu ihm kam, nachdem sich David mit Batseba vergangen hatte. Der Schluss von Psalm 72: „Ende der Gebete Davids, des Sohnes Isais“ macht deutlich, dass es schon vor der endgültigen Zusammenstellung des Psalters Einzelsammlungen gegeben hat, die David zugeschrieben wurden.
Ebenfalls auf vorhergehende Sammlungen, die im Psalter aufgegangen sind, verweisen die levitischen Sängerfamilien zugeordnete Psalmen: Asaf (Psalm 50; 73-83); Korach (Psalm 42-49; 84-85; 87-88). Sie sind zugleich ein Hinweis darauf, in welchen Kreisen die Psalmen weitergegeben wurden.
Ebenfalls sind hier die inhaltlich zusammenhängenden Jahwe-König-Psalmen (Psalm 93-100) und die Wallfahrtspsalmen (Psalm 120-134) zu nennen.
Bei manchen Psalmen ist die Verwendung im Gottesdienst klar. Die Wallfahrtspsalmen sind dem entsprechenden Geschehen zuzuordnen; die Toreinlassliturgien Psalm 15 und Psalm 24 setzen den Weg zum Tempel voraus. Im ersten Chronikbuch wird anlässlich der Neuerzählung der Übertragung der Lade nach Jerusalem durch David der Ablauf eines Gottesdienstes in der Zeit des Zweiten Tempels (515 v. Chr. bis 70 n. Chr.) deutlich. Dort tragen der Levit Asaf (nach dem auch eine Sammlung im Psalter benannt ist, siehe oben) und seine levitischen Mitstreiter einen Lobpreis Gottes vor; ihnen sind die unterschiedlichen Instrumente, die auch im Psalter erwähnt werden, anvertraut ( 1. Chronik 16,4-36). Demnach können wir davon ausgehen, dass Psalmen im gottesdienstlichen Geschehen im Tempel und auch im Synagogengottesdienst verwendet wurden. Die levitischen Sänger waren wohl auch die Gruppe, die für die Sammlung und Ausgestaltung der Psalmen verantwortlich sind. Der Psalter ist wohl in dieser Gruppe zwischen 200 und 150 v. Chr. zusammengestellt worden.
Dies bedeutet jedoch nicht, im Psalter so etwas wie ein Gesangbuch der Gottesdienstgemeinde zu sehen. Es handelt sich eher um ein „Trost-, Hoffnungs- und Erbauungsbüchlein“ (Thomas Staubli) der frommen Israeliten, das dem Gebet und der persönlichen Meditation diente. Mit ihm konnte der bzw. die Einzelne die Beziehung zu dem lebendigen Gott gestalten. „In der Beziehung zu ihm findet der Israelit und die Israelitin, der Christ und die Christin zum ‚Wir‘ in Synagoge und Kirche und zum ‚Ich‘ als ganzer, zufriedener Mensch“ (Thomas Staubli, Begleiter durch das Erste Testament, S. 309).
Für viele befremdlich und anstößig sind innerhalb des Psalters die sogenannten „Fluchpsalmen“. In Psalm 58 wird zum Beispiel darum gebeten, dass Gott die Feinde hinwegfege; wenn der Gerechte dann die Vergeltung sieht, freut er sich und badet seine Füße im Blut des Frevlers (Vers 10). Diese Verse sind ein Aufschrei aus der Perspektive des Opfers, dessen Ziel die Verwirklichung der Gerechtigkeit ist: „Dann sagen die Menschen: ‚Der Gerechte erhält seinen Lohn; es gibt einen Gott, der auf Erden Gericht hält.‘“ (Vers 12). Die Verwirklichung dieser Vergeltung überlässt der Beter oder die Beterin dabei Gott. Gewalt wird dadurch umgewandelt, dass sie benannt wird und sie wird in die Hände Gottes gelegt. Psalmen haben die Funktion, Gewalt nicht zu verschweigen und dafür zu sorgen, dass im Inneren des Menschen keine „Mördergrube“ entsteht. Gewalt wird als solche benannt. Angesichts unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die richtigerweise Gewalt ablehnt, aber dabei übersieht, dass zum Beispiel das Bedürfnis nach billiger Kleidung in den „entwickelten“ Ländern buchstäblich Menschen in Bangladesch tötet, gibt die Perspektive von Fluchpsalmen gerade vor, wie einerseits Unrecht nicht verschwiegen wird und andererseits auch verhindert wird, dass Gewaltphantasien in die Wirklichkeit umgesetzt werden.

Dr. Bernhard Lehnart

Weiterführende Literatur
F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Das Buch der Psalmen, in: E. Zenger, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 82012, 428-452
F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Die Psalmen I-III, Die Neue Echter Bibel, Würzburg 1993-2012
Millard, Art. Psalmen, http://www.wibilex.de
M. Oeming, Das Buch der Psalmen. Psalm 1-41, Neuer Stuttgarter Kommentar Altes Testament 13/1, Stuttgart 2000, 13-47
G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 61969, 366-430
Th. Staubli, Begleiter durch das Erste Testament, Ostfildern 42010, 307-319

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