Ein Überblick über die Geschichte des Psalmengesangs in Europa

1. Überall wo jüdische oder christliche Menschen sind, singen sie auch.
Die häufigsten Texte sind die Psalmen, für Christen auch die Cantica (Gesänge) des Zweiten Testamentes, vor allem die Lobgesänge aus den ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums: Magnificat, Benedictus, Gloria, Nunc dimittis.

2. Die Arten der Vertonung sind äußerst vielfältig und abhängig von Zeit, Region, Raum, Anlass, Art und Anzahl der Ausführenden.

3. Im einstimmigen Psalmengesang gibt es eine Kontinuität über zweitausend Jahre.
Der Gesang des Kantors in einem heutigen jüdischen Gottesdienst klingt archaisch und
orientalisch. Selbst im Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ von 2013 werden die Psalmen auf Melodien gesungen, die seit mehr als tausend Jahren überliefert sind.

4. An diese acht bzw. neun Psalmtöne knüpft das mehrstimmige Singen an:
In England entsteht um 1420 der „faburden“-Satz, in dem auch Psalmen gesungen werden. In Burgund schreibt Gilles Binchois (um 1400–1460) „In exitu Israel“ (Ps 114/113A) im Fauxbourdon-Stil. Es ist die erste mehrstimmige Vertonung eines Psalms, die unter dem Namen eines Komponisten erhalten ist. Seit dem 16. Jahrhundert werden zumindest die Psalmen der Sonntagsvespern in Europa als „falsibordoni“ gesungen.

5. Faburden, Fauxbourdon, Falsibordoni: mehrstimmiges, akkordisch-homophones Rezitieren der Psalmen, oft in zwei sich abwechselnden Chören, auf der Grundlage der traditionellen Psalmtöne.

6. Um 1500 entsteht die Psalmmotette, die Vertonung des Psalmtextes in kunstvoll-polyphoner Technik. Ihr erster großer Meister ist Josquin Desprez (um 1440–1521). Den Höhepunkt der Psalmmotette bilden die Bußpsalmen von Orlando di Lasso (1532-1594), geschrieben 1559, gedruckt 1585. Bis heute werden Psalmmotetten geschrieben.

7. Die reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts betonen den Gesang der ganzen Gemeinde im Gottesdienst, auch des Psalmengesanges. Martin Luther schreibt eine Reihe von Psalmliedern, Übertragungen des Psalmtextes in Vers und Reim, am bekanntesten „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (Psalm 130, 1524). Im Genf des Johannes Calvin werden alle 150 Psalmen als Lieder gesungen, einstimmig oder in vierstimmigem homophonem Satz (Genfer Psalter).

8. Die Liturgiereform des ersten anglikanischen Erzbischofs Thomas Cranmer (1489-1556) verteilte die 150 Psalmen auf Morgen- und Abendgebet an den dreißig Tagen eines Monats. Die Psalmen werden einstimmig von der Gemeinde oder in schlichtem Satz (anglican chant) vom Chor gesungen. Beim Anthem darf der Chor mit seinem Können glänzen; Textgrundlage können auch Psalmverse sein.

9. In Italien entwickelt sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts das mehrchörige Musizieren, vor allem in Rom und Venedig. Außerdem werden nun obligate Instrumente einbezogen: die Geburt des konzertierenden Stils und damit der Barockmusik. Musterbeispiel sind die Psalmen in der Marienvesper (1610) von Claudio Monteverdi (1567-1543) und die Psalmen Davids (1619) von Heinrich Schütz (1585-1672).

10. Am Hof Ludwigs XIV. entsteht die repräsentative Form des Grand motet: Bei der Werktagsmesse in Anwesenheit des Königs wurde sie musiziert, meistens die Vertonung eines ganzen Psalms, für grand und petit choeur und Orchester. Die wichtigsten Meister sind Jean-Baptiste Lully (1632-1687), Marc-Antoine Charpentier (1645-1704) und Michel-Richard Delalande (1657-1726). Um in der Fastenzeit Konzerte veranstalten zu können, wird 1725 in Paris ein Unternehmen mit dem Titel „Concert Spirituel“ gegründet. Dort werden auch Grands motets aufgeführt: Psalmen wandern in den Konzertsaal.

11. In Italien entsteht im 17. Jahrhundert eine ähnliche Form: die Psalmkantate. Der Text wird auf Arien, Chor- und Ensemblesätze aufgeteilt. Die Vesperpsalmen von Georg Friedrich Händel (1685-1759) und Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791) gehören zu dieser Gattung.

12. Im 18. Jahrhundert entwickelt sich ein weiterer Ort für das Musizieren von Psalmen: der kleine häusliche Kreis. Die „Geistlichen Oden und Lieder“ (1757) von Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) beruhen vor allem auf Psalmtexten und wurden vielfach vertont. Am bekanntesten sind die Fassungen von Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) und Ludwig van Beethoven (1770-1827): „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ paraphrasiert Psalm 19 (op. 48).

13. Die fünf Psalmen für Soli, Chor und Orchester (42, 95, 98, 114, 115) von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) bilden den Höhepunkt der Gattung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie wurden für den Konzertsaal geschrieben, Psalm 98 aber auch im Berliner Dom aufgeführt. Mendelssohn schrieb auch Psalmmotetten für Chor a cappella und schlichte vierstimmige Sätze für den Gemeindegesang. So beteiligte er sich an der Liturgie- und Kirchenmusikreform des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV.

14. Auch jüdische Komponisten vertonen Psalmen im Stil ihrer Zeit. Salomone de‘ Rossi (um 1570 – um 1630) veröffentlicht 1623 Salmi e cantici ebraici unter dem Titel „Hashirim asher lish’lomo“. Im 19. Jahrhundert stellen sich Komponisten wie Salomon Sulzer (1804-1890) in Wien und Louis Lewandowski (1821/23-1894) in Berlin in den Dienst der Reformsynagogen, indem sie die Texte des jüdischen Gottesdienstes im Stil von Franz Schubert oder Felix Mendelssohn mehrstimmig vertonen.

15. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der Unterschied zwischen liturgischer und konzertanter Musik immer größer. Die Orchesterpsalmen von Anton Bruckner (1824-1896) und die Motetten von Johannes Brahms (1833-1897) und Max Reger (1873-1916) sprengen die Möglichkeiten der meisten Gottesdienste.

16. Im 19. Jahrhundert wird auch zum ersten Mal ein Instrumentalstück über einen Psalm komponiert: die Sonate c-Moll „Der 94. Psalm“ (1857) von Julius Reubke (1834-1858), einem Schüler von Franz Liszt (1811-1886). Georges Lentz (*1965) schreibt seit zwanzig Jahren an einem siebenteiligen Zyklus „Caeli enarrant…“ (Die Himmel erzählen, Psalm 19).

17. Auch im 20. Jahrhundert wird aus Psalmtexten große Musik: Arnold Schönbergs (1874-1951) Vertonung des hebräischen Palm 130 (1950, op. 50c), Igor Stravinskijs (1882-1971) Psalmensinfonie (1930), Lili Boulangers (1893-1818) Psalmen, Leonard Bernsteins (1918-1990) Chichester Psalms (1965). Und 1998 wagt es Arvo Pärt (*1935), die Psalmen 42 und 43 zu vertonen, wie Felix Mendelssohn Bartholdy 160 Jahre vor ihm: „Como cierva sedienta“ – „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser“.

Literatur
Finscher, Ludwig: Die mehrstimmige Psalm-Komposition,
in: Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Ausgabe, Sachteil, Bd. 7, Sp. 1876-1900 (1997)

Johannes Stein

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