Abend auf der Karl-Johan-Strasse – Anmerkungen zu Munchs Bild

Ein innerer Zwiespalt zwischen Hingabe und existenzieller Angst prägt das gesamte Schaffen Edvard Munchs. Darstellungen, die den Menschen eingebettet in die ewigen Rhythmen der Natur zeigen, stehen Metaphern des Grauens gegenüber. Das Gemälde „Abend auf der Karl-Johan-Straße zählt zu letzteren. Ort des „Geschehens“ ist Oslos große Prachtstraße. Munch hat sie in seinen Gemälden wiederholt dargestellt (vgl. z.B. „Frühlingstag auf der Karl-Johan-Straße“ oder „Militärkapelle auf der Karl-Johan-Straße). Die beschwingte Atmosphäre anderer Darstellungen ist hier einer beunruhigenden Stimmung gewichen; das liegt nicht allein an der dunklen Farbpalette; die Straße selbst erscheint merkwürdig gewandelt; ihre ausladende Weite hat einer beklemmenden Enge Platz gemacht. Munch erzielt die bedrohliche Wirkung, indem er die Diagonalen in übertriebener perspektivischer Fluchtung bündelt.

Auf der linken Straßenseite drängt eine Menschenmenge nach vorn, auf die Betrachterin und den Betrachter des Bildes zu. Die andere Seite erscheint dagegen fast leer; schattenähnliche Schemen ganz im Hintergrund lassen einige Gestalten erahnen, die jedoch angesichts der vordrängenden Menge zur Bedeutungslosigkeit absinken. Die Straßenmitte wird von einer schwarzen Gestalt beherrscht, die den Betrachtenden den Rücken kehrt. Sie ist den beiden Figuren nachempfunden, die bei dem Gemälde „Der Schrei“ in den Hintergrund drängen. In beiden Fällen entsteht so eine antagonistische Dynamik, die die eigentliche Vorwärtsbewegung unterstreicht. Das dichte Gedränge auf der linken Seite steht in effektvollem Kontrast zu der gähnenden Leere im rechten Bildvordergrund. Munch hat zudem für jede Straßenhälfte einen eigenen Fluchtpunkt gewählt, was den Kontrast zusätzlich unterstreicht: für den linken Teil ist es der Schnittpunkt der Seitenhalbierenden, wohingegen der andere Fluchpunkt in die linke Bildhälfte hineingeschoben ist, so dass die leere Straßenseite an den Rand rückt.

Die –Szene spielt zu einer vorgerückten Tageszeit; die Farben sind duster, in einigen Gebäuden sind die Fenster hell erleuchtet. Die dunkel gekleideten Gestalten erscheinen als Vorboten der nahenden Nacht; langsam aber unaufhaltsam drängen sie nach vorne. Drei Personen, die dem Fluchtpunkt zustreben, haben sie bereits zu Seite geschoben. Die Zufälligkeit des Bildausschnittes ist neben den gebündelten Diagonalen Garant für den Eindruck von Bewegung, der unvermeidlich bei jeder Betrachterin und jedem Betrachter entsteht: die Gestalten, von denen meist nur Kopf und Oberkörper am unteren Bildrand zu sehen sind, erweitern die Szene über die von der Leinwand vorgegebene Begrenzung hinaus.

Eine gespenstische Lautlosigkeit scheint über der Szene zu lasten; wird in dem Gemälde „Der Schrei“ das Individuum zu einem Ausrufezeichen der Angst, so wird in diesem Werk die Menge zu einem Zeichensatz des stummen Grauens, wobei die einzelnen Zeichen im Hintergrund zu eine amorphen Masse verschmelzen; – das existenzielle Grauen unterscheidet nicht individuell; es kollektiviert vielmehr und nivelliert; – wie der Tod. Auch die Gestalten im Vordergrund entbehren der Individualität. Ihre zu larvenähnlichen Masken erstarrten Gesichter sind noch furchteinflößender als die anonyme Gesichtslosigkeit der von ihnen zur Seite geschobenen Personen. Die alles überragende, mit schwarzem Umhang und Zylinder bekleidete Gestalt im Vordergrund verleiht der vorrückenden Menge den Charakter eines Leichenzuges; – unter dem Zylinder starrt den Betrachtenden ein Totenschädel entgegen; er findet seine Entsprechung in der amöboiden Kopfform der weiblichen Gestalt, die am weitesten vorgerückt ist. Von der ihr nachfolgenden Frau ist nur die Augenpartie deutlich wahrnehmbar. Die weit aufgerissenen Augen machen die drei vordersten Gestalten zu Chiffren des Grauens. Ihre Gesichter werden vom Widerschein einer mysteriösen Lichtquelle auf gespenstische Weise erleuchtet.

Die Eindringlichkeit der Darstellung wird gesteigert durch das Fehlen jeder Begründung für das Geschehen im Bild selbst. Die bedrohliche Verengung der Straße ist ja keine objektive Realität, sondern subjektives Empfinden der angstentstellten Figuren. In dem Gemälde erscheint die existenzielle Angst des Menschen gestaltet zu sein. Sie bedarf keiner Erklärung; sie gehört zum Menschsein ist stets latent vorhanden; meist jedoch dringt sie nicht ins Bewusstsein.

Munch bannt in zahlreichen seiner Gemälden eine erschreckende Erfahrung auf die Leinwand: Die gewohnte Umwelt verändert in der Erfahrung des Menschen eines Tages plötzlich, ohne erkennbaren Anlass, ihr Gesicht. Die vertraute Straße, eine vertraute Landschaft verlieren die Vertrautheit, werden fremd und feindlich und scheinen sich dem Menschen drohend gegenüberzustellen. Der Mensch wird in dieser Verwandlung seiner eigenen Verlassenheit gewahr. Statt der heimatlichen Geborgenheit sieht er sich einer bedrohlichen Fremde gegenüber. Munch gestalte die Angst vor dem Verlorengehen, vor dem Nicht-Sein; sie resultiert aus dem Fehlen eines verbindlichen An- und Zugehörens:
„Eine Welt, die sich – wenn auch mit schlechten Gründen – deuten und rechtfertigen lässt, ist immer noch eine vertraute Welt. Aber in einem Universum jedoch, das plötzliche der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd. Aus diesem Verstoßen-sein gibt es für ihn kein Entrinnen, weil er der Erinnerung an eine verlorene Heimat oder der Hoffnung auf ein gelobtes Land beraubt ist.“ (Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Rowohlt, 1978, 4. Aufl., S. 11)

(Dr. Kornelia Siedlaczek)

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